Was sind Regeln? 

Dr. Magdalena Hoffmann

Die Frage dieser Rubicon-Ausgabe „Wer darf die Regel brechen?“ setzt bereits ein spezifisches Vorverständnis von Regeln voraus. Demnach darf man offensichtlich eine Regel brechen, denn sonst stellt sich gar nicht erst die Frage nach dem Akteur des Regelbruchs. Doch eine solche Auffassung von Regeln ist keineswegs selbstverständlich, weshalb in diesem Beitrag — gemäß Schopenhauers Diktum — zunächst das Verständnis von Regeln geklärt bzw. die vorgeordnete Frage „Was sind Regeln?“ diskutiert wird. Weshalb gelten sie, wie wirken sie und wo sind ihre Grenzen? 

Was sind Regeln und warum existieren sie überhaupt? 

Generell lassen sich Regeln als Handlungsanleitungen verstehen. Als Handlungsanleitungen („x soll getan werden“) sind Regeln normativ, d.h. sie beinhalten eine (Auf)Forderung zur Befolgung. Dieser normative Charakter von Regeln wird gut deutlich, wenn wir die Reaktionen auf ihre Verletzung beobachten: Befolgt man selbst eine Regel nicht, verspürt man Reue — so zumindest die Erwartung seitens der Philosophie. Verletzen andere die Regel, folgen Sanktionen in Form von Tadel, Ausschluß oder Strafe. Dies gilt zunächst für alle Formen von Regeln und ihre Anwendungsbereiche: Für schriftlich fixierte Regeln (z.B. Gesetze) ebenso wie für informelle Regeln (z.B. Konventionen); für Regeln des Rechts ebenso wie für moralische Regeln — allein der Ausdruck und die Intensität der Mißbilligung nach Regelverletzungen mag variieren. 

Diese bisweilen massiven Reaktionen lassen sich nur vor dem Hintergrund der Funktion von Regeln angemessen einordnen: So sind Regeln zum einen für ein Zusammenleben unabdingbar, da sie Konformität gewährleisten und uns damit von der Sorge vor der Unberechenbarkeit anderer befreien. Zum anderen leisten sie Orientierung bezüglich gefordertem bzw. verbotenem Handeln und ersparen uns damit unzählige Einzelfallentscheidungen. 

Zur Geltung, Akzeptanz und Wirksamkeit von Regeln 

Regeln gelten, dem Rechtsphilosophen Norbert Hoerster zufolge, sobald sie existieren. Und die Tatsache, daß sie gelten, interpretiert er als Beweis ihrer Akzeptanz durch die von ihr Betroffenen. Akzeptanz heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes als daß der normative, handlungsanleitende Charakter der Regel anerkannt wird. Dabei spielt es keine Rolle, aus welchen Gründen dies geschieht. 

Vertragstheoretiker wie Hobbes, Locke oder auch Rawls sind sich allerdings darin einig, daß nur die Regeln, denen man auch zugestimmt hat oder denen man aus guten Gründen zustimmen müßte, akzeptabel und bindend sind. Nur unter der Prämisse der Zustimmung erweist sich die „Unterwerfung“ unter diese Regeln als rational. Diese Begründung, die im philosophischen Kontext der Staatslegitimation oder der Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien dient, stößt allerdings im wirtschaftlichen Bereich an Grenzen. Schließlich werden zentrale strategische bzw. operative Entscheidungen von der Geschäftsleitung und/oder dem Verwaltungsrat getroffen, sind aber für die gesamte Belegschaft bindend. Kann die vertragstheoretische Einsicht gleichwohl für Unternehmen und ihre Führung von Hilfe sein? Ja, denn sie verdeutlicht, worauf es bei jeder erfolgreichen Regelsetzung ankommt: Daß sie als sinnvoll anerkannt wird. Das heißt, daß die Unternehmensführung Überzeugungsarbeit leisten muß. Es versteht sich von selbst, daß sich diese nicht in einer bloßen Mitteilung von Entscheiden erschöpfen kann. 

Die Kluft zwischen Anerkennung und Befolgung einer Regel 

Doch zwischen der (theoretischen) Anerkennung einer Regel und ihrer (praktischen) Befolgung tut sich nicht selten eine Lücke auf. Diese Lücke beschreibt Hoerster, indem er begrifflich die Geltung einer Regel von ihrer Wirksamkeit unterscheidet. Während eine Regel gilt, sobald sie existiert, ist sie erst dann wirksam, wenn die von ihr Betroffenen sie alles in allem auch faktisch befolgen. Setzt etwa die Finma eine neue Regelung bezüglich Geldwäsche in Kraft, dann gilt diese Regelung — denn sie führt sogleich dazu, daß Banken dazu angehalten sind, sie zu befolgen. Solange die Banken diese Regelung dann tatsächlich befolgen, gilt die Regel nicht nur, sondern ist auch wirksam. Da die Verletzung von Regeln kostspielig wird, sobald sie gelten, werden Kritiker schon im Vorfeld der Regelsetzung dagegen opponieren. Auch hier gilt wieder: Es muß viel Überzeugungsarbeit seitens der regelsetzenden Instanz geleistet werden! 

Nun gibt es in so gut wie jeder Regelgemeinschaft Mitglieder, die zwar ein Interesse an der Geltung von Regeln haben, ohne aber bereit zu sein, sie auch zu befolgen. Das heißt, wir müssen zwischen einem Regelgeltungsinteresse und einem Regelbefolgungsinteresse unterscheiden. Aber was tun, wenn man mit den Regeln nicht einverstanden ist? Soll man sie dann ändern oder verletzen? Das hängt davon ab, ob man sich als Reformer oder als Trittbrettfahrer verstehen möchte: Während der Reformer die geltenden Regeln ändern möchte, hat der Trittbrettfahrer ein Interesse daran, daß die geltenden Regeln auch befolgt werden, damit er umso mehr von ihrer Verletzung profitieren kann. Letztere Strategie erweist sich natürlich nur solange als erfolgreich, wie der Trittbrettfahrer unentdeckt bleibt. Widerstand gegen mehr Transparenz wirkt vor diesem Hintergrund wie ein fragwürdiges Manöver zum Schutze des Trittbrettfahrers. 

Die Grenzen von Regeln 

Trotz der wichtigen Funktionen von Regeln und ihrer Unumgänglichkeit stoßen wir regelmäßig an ihre Grenzen. Bisweilen sind wir mit Situationen konfrontiert, die so strittig oder neuartig sind, daß uns die geltenden und wirksamen Regeln nicht weiterhelfen — dies ist ein Problem, dem sich bereits Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seinem 5. Buch der Nikomachischen Ethik gewidmet hat. Seine Lösung ist, nicht überraschend, eine tugendethische: Dort, wo Regeln aufgrund einer strittigen oder neuartigen Situation keine Orientierung mehr geben können, wird die Tugend der Billigkeit (eine Form der Gerechtigkeit) wirksam: Mit Hilfe dieser Tugend weiß der gerechte Mann den „Geist“ der Regel auch im Unbestimmten fortzusetzen. Daß die Regel ihre Grenzen hat, ist demnach nicht als ein Mangel zu werten, sondern als ein Spielraum, der der Tugend auch noch Gelegenheit zur Entfaltung bietet. Auch heute noch dürfen wir davon ausgehen, daß es trotz aller (Selbst)Regulierung hinreichend Gelegenheiten geben dürfte, seine Exzellenz im Sinne der Tugend in strittigen und neuartigen Situationen unter Beweis zu stellen. 

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Dr. Magdalena Hoffmann

Studienleiterin des Weiterbildungsstudiengangs „Philosophie + Management“ an der Universität Luzern. Dieser schweizweit einzigartige Studiengang richtet sich an Führungskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung, die mittels philosophischer Reflexion zentraler Management-Themen ihre Souveränität steigern möchten: www.philomanagement.chNach ihrer Promotion in Philosophie an der Universität Bonn war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem philosophiehistorischen Editionsprojekt an der Universität Zürich tätig. Anschließend forschte sie als Post-Doc zu Gründen der Parteilichkeit an der Universität Bern und an der New York University. Sie ist Mitglied der Kantonalen Ethikkommission Bern. Derzeit arbeitet sie zu Arbeitsbeziehungen.