Überwachen als Aufgabe

Dr. Dominik Kaegi

Angenommen, Sie trainieren ein Fußballteam der Super-League. Die Saison läuft gut, auf dem Platz funktioniert die Mannschaft. Trotzdem kommt Ihnen der Verdacht, daß zwei oder drei aus dem Kader sich unprofessionell verhalten. Fastfood statt Obstsalat zwischen den Trainingseinheiten, abends öfter mal ein Bier. Beweise haben Sie nicht, aber es sind immer dieselben Spieler, denen in der Schlußphase die Luft fehlt. Sie gehen der Sache nach, lassen die „Verdächtigen“ unauffällig beobachten, checken ihre E-Mails, um sich ein Bild zu machen und einschlägige Kontakte zu rastern — regelmäßige Bestellungen beim örtlichen Pizzaservice wären vielleicht schon ein Indiz. Sie kontrollieren also ihre Spieler. Die Kontrolle mag legitim sein und pragmatisch geboten: Ihr Risiko besteht darin, daß Sie zu weit gehen. Selbst wenn sich Ihr Verdacht bewahrheiten sollte, laufen Sie Gefahr, Rechte zu verletzen, auf die auch illoyale Spieler Anspruch haben. 

Das Polizeimodell der Überwachung 

Das ist ein Modell der Überwachung, sagen wir: das polizeiliche Modell, mit dem sich ein entsprechender Begriff von Risiko verbindet. Die Fallbeschreibung könnte man variieren und anreichern: Grundsätzlich ergibt sich das Überwachungsrisiko hier aus dem unklaren Verhältnis von Kontrolle und Recht. Sie wissen nicht genau, was Sie dürfen, und da Reglemente und Regularien immer auch eine Frage der Interpretation sind, befinden Sie sich, von den basics evidenter Grundrechte abgesehen, in einer Grauzone. Dieses Risiko läßt sich durch juristische Expertise minimieren, komplett ausschalten läßt es sich nicht. Die einzig erfolgversprechende Strategie scheint, sich in der Grauzone möglichst vorsichtig zu bewegen. 

Das pädagogische Modell der Überwachung 

Als Trainer überwachen Sie Ihre Spieler aber noch in einem ganz anderem Sinne. Sie bilden jeden Spieler aus, bringen ihm bestimmte Bewegungsabläufe und taktische Verhaltensweisen bei, registrieren seine Entwicklung, setzen ihn vor der Abwehr und im offensiven Mittelfeld ein, um die richtige Position für ihn zu finden: Sie versuchen, ihn besser zu machen, und die Fähigkeiten, die er mitbringt, zu optimieren. Sie geben dem Spieler eine Norm vor, die er ausfüllen soll, und Sie kontrollieren und korrigieren ihn, bis sein Spiel Ihren Vorstellungen entspricht.  

Das ist ein zweites Modell der Überwachung — das pädagogische Modell —, mit dem sich ein zweiter Begriff von Risiko verbindet. Ihr Risiko als Trainer hat jetzt ein anderes Gesicht (und Gewicht). Es geht nicht mehr darum, daß Sie ungesetzlich handeln, wenn sie bestimmte Dinge tun; es geht darum, daß Sie sich in dem, was Sie von ihren Spielern erwarten, wozu Sie sie bringen wollen, irren können. Im ersten Fall — im Modell der polizeilichen Überwachung — ist die Überwachung riskant, weil sie möglicherweise gegen Regeln verstößt. Im zweiten Fall — bei der pädagogischen Überwachung — ist nicht die Überwachung als solche riskant, sondern das Konzept, das hinter ihr steht. Wenn Sie das falsche Konzept wählen, ein Trainingsprogramm fahren, das auf ihre Spieler nicht paßt, tragen die Spieler die Konsequenzen. Als Trainer riskieren Sie, Fehler zu machen, die „interaktionsfolgenrelevant“ sind, zu Deutsch: Sie können Mist bauen, unter dem andere leiden. Aber wie lassen sich die richtigen Konzepte finden? 

Führung, Training, Coaching

Offensichtlich betrifft die Frage über die Figur des Trainers hinaus das Ensemble von Funktionären, Managern, auch Priestern, die andere „führen“, ausbilden, anleiten, und die für ihre Mitarbeiter, Angestellten, Gemeindemitglieder ein bestimmtes Konzept haben (oder wenigstens haben sollten), eine „Philosophie“, wie man sagt, oder einen Katechismus, deren Einhaltung sie nicht nur fordern, sondern auch kontrollieren. Je detaillierter diese Philosophie, dieser Katechismus, desto stärker tendiert die „Führung“ zum Training — das Risiko ist ohnehin dasselbe: das vorgegebene Konzept kann falsch sein. Braucht man ein besonderes Trainertraining, um Konzeptfehler zu vermeiden? 

Coaching war immer schon ein zentrales Thema der eigentlich sogenanten Philosophie, und mindestens in der platonischen Tradition besaß die Analogie zum Sport, zur Athletik, von Beginn an leitmotivische Bedeutung. Der Ursprung der Akademie ist gewissermaßen das Stadion. Platoniker coachten allerdings nicht Sportler, sondern „den“ Menschen. Der Anspruch lautete, aus halbfertigen Wesen, die zur Vernunft fähig und auf Gemeinschaft angelegt sind, vernünftige und soziale Wesen zu machen. 

Entscheidend ist die Idee des Ganzen

Paideia“ — „Formung“, wie Werner Jaeger übersetzt — ist in diesem Zusammenhang der Schlüsselbegriff. Paideia meint mehr als Training oder Ausbildung im bislang skizzierten Sinne, denn „vernünftig“ und „sozial“ sind nicht wiederum Konzepte, Verhaltensnormen, auf die hin man Menschen erziehen kann, wie man Spieler zu Linksaußen oder Innenverteidigern ausbildet. Ein platonischer Coach setzt voraus, daß solche Konzepte bereits im Umlauf sind: Der Militär verlangt von seinen Soldaten Tapferkeit, der Priester von seiner Gemeinde Frömmigkeit. Häufig sind die Konzepte nicht sonderlich stabil, die meisten von ihnen überstehen bereits die erste Runde eines sokratischen Dialogs nicht. Plato will damit die Konzepte (und ihre Träger und Repräsentanten) nicht ins Lächerliche ziehen. Er will zeigen, daß Konzepte etwas sind, an dem wir uns und andere orientieren, statt darüber zu reden. Selbst der große Fußballtrainer Guardiola hätte Schwierigkeiten, einwandfrei zu definieren, was ein Innenverteidiger ist (oder vielleicht: gerade Guardiola nicht, aber er wäre dann die Ausnahme). Entscheidend war für Plato, daß philosophisches Coaching gegebene Konzepte — sie mögen mehr oder weniger konzise sein — stets auf die Idee eines Ganzen bezieht, sie an der Idee eines Ganzen mißt, das in sich vernünftig und sozial organisiert ist. Das Ganze kann ein Staat, eine Gemeinde, eine Mannschaft sein — oder ein Unternehmen. Auf die Formate kommt es nicht primär an, das Ziel ist bei allen Formaten: Übergreifende Ideen zu formulieren, die Trainingsprogramme und Erziehungsnormen als rational und als fair ausweisen. Der philosophisch geschulte Funktionär, Manager oder eben Trainer wird, von außen betrachtet, nicht völlig andere Dinge tun als sein unphilosophisches Pendant. Er wird Anweisungen geben, kontrollieren, korrigieren und wieder Anweisungen geben. Aber anders als sein Pendant ist er in der Lage, Akzeptanz zu schaffen dadurch, daß er Konzepte und Verhaltensnormen in übergeordnete Zusammenhänge integriert, an denen Teil zu gewinnen für die Mitarbeiter oder Spieler bedeutet, nicht nur in der Position des Abteilungsleiters oder Innenverteidigers gebraucht zu werden, sondern als Vernunft- und Gemeinschaftswesen zur Geltung zu kommen. Wie das konkret aussieht, kann auch der philosophisch geschulte Trainer nur in Umrissen antizipieren. 

Der philosophisch geschulte Manager ist in der Lage, Akzeptanz zu schaffen dadurch, daß er Verhaltensnormen in übergeordnete Zusammenhänge integriert. 

Je durchdachter das Ganze, desto geringer das Risiko 

Es ist keine Frage des Wissens, sondern der ideengeleiteten Praxis, eine Mannschaft so zu strukturieren, daß sich Menschen entwickeln, indem man Konzepte umsetzt. Die Konzepte können selbst dann noch falsch sein — der als Innenverteidiger „konzipierte“ Spieler gehört vielleicht doch ins Mittelfeld. Aber das Risiko von Konzeptfehlern verringert sich in dem Maße, in dem die Idee des jeweiligen Ganzen durchdacht ist. Deshalb gilt: Je weiter man denkt, desto geringer das Risiko. 

Das wirft Licht auch auf den ersten Fall, auf das Modell der polizeilichen Überwachung. Polizeiliche Überwachung, so der erste Eindruck, ist immer riskant. Aber daraus folgt nicht, daß als einzige Risikominimierungsstrategie das geschickte Lavieren in der Grauzone bleibt. Die Strategie der Minimierung hängt vielmehr davon ab, wie Sie ihr eigene Rolle verstehen. Sie können diese Rolle so verstehen, daß Polizeimaßnahmen eigentlich nicht Ihr Job sind: Wenn Sie sich entschließen, das Netzwerk und die Kontakte Ihrer Spieler zu überwachen, tun Sie das „aus der Situation heraus“, Sie reagieren auf bestimmte Umstände, und gehen rechtlich gewisse Risiken ein. Dann aber ist auch die Risikominimierung nicht eigentlich Ihr Job. Oder Sie verstehen Ihre Rolle so, daß prinzipiell auch polizeiähnliche Maßnahmen zu Ihrem Profil als Trainer gehören. Die Grauzone wird dadurch zwar nicht heller, aber Sie können sich aufrechter in ihr bewegen, solange sie auf die Akzeptanz ihrer Spieler bauen können — selbst wenn die Kontrollen Regeln verletzen sollten. Auf Akzeptanz bauen können sie allerdings nur, wenn Sie vorher Akzeptanz geschaffen haben, und Akzeptanz schaffen Sie, indem Sie — hier schließt sich der Kreis — Ihren Spieler in der täglichen Arbeit und neben dem Platz vermitteln, daß Ihr Trainingsprogramm, inklusive der Polizeimaßnahmen, von der Idee eines Ganzen lebt, die im Interesse aller ist. Und in einer idealen Welt erreichen Sie auf diesem Weg sogar Ihre illoyalen Spieler. 

Das Risiko von Konzeptfehlern verringert sich in dem Maße, in dem die Idee des jeweiligen Ganzen durchdacht ist. 

Dominic Kaegi, Dr. phil., ist Philosoph an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und daselbst wissenschaftlicher Mitarbeiter der Karl-Jaspers-Forschungsstelle. Stiftungsrat der Karl-Jaspers-Stiftung und der Lucerne Conference Foundation. Zahlreiche Publikationen, unter anderem als Herausgeber: Cassirer — Heidegger: 70 Jahre Davoser Disputation (2002) und Philosophie der Lust (2009). 

Überwachung auf Verdacht oder aus Überzeugung

Der Unterschied ist also, ob Sie auf Verdacht und damit letztlich aus externen Gründen, kontrollieren — oder aus Überzeugung. Aus Überzeugung kontrollieren heißt gerade nicht, Überwachung als Selbstzweck zu betreiben. Im Gegenteil: Wer aus Überzeugung kontrolliert, muß mehr in Anschlag bringen: einen Horizont, in dem die Überwachung auch für die Überwachten plausibel ist. Überwachen, in diesem Sinne, ist eine Aufgabe, von der Plato behauptete, nur Philosophen könnten sie leisten. 

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Dr. Dominik Kaegi

Philosoph an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und daselbst wissenschaftlicher Mitarbeiter der Karl-Jaspers-Forschungsstelle. Stiftungsrat der Karl-Jaspers-Stiftung und der Lucerne Conference Foundation. Zahlreiche Publikationen, unter anderem als Herausgeber: Cassirer — Heidegger: 70Jahre Davoser Disputation (2002) und Philosophie derLust (2009).