Dr. Reinhard K. Sprenger
Sinn — die nachgefragte Kategorie
Was erwarten junge Menschen von ihrem Arbeitsleben? Die Diskussion darüber ist alt, oft mit Generationsetiketten bewehrt (Golf, Internet, X, Y, Z) und von der demographischen Entwicklung befeuert. Man hört von Knappheit auf den Personalmärkten, vom „War for Talents“ und von den Differenzen zwischen dem, was Bewerber wollen, und was Unternehmen zu bieten haben. Durchaus im Unterschied zu dem, was Unternehmen wollen und Bewerber zu bieten haben.
Probleme mit der gegenwärtigen Verfaßtheit der Firmen hat ganz sicher jene Generation, die mit großen Freiheitsräumen aufgewachsen, gut ausgebildet und extrem internetaffin ist. Personalmanager klagen, daß ein Arbeitsleben, das aus Konformität, Regelhaftigkeit und starren Abläufen besteht, für viele Bewerber nicht mehr attraktiv ist. Letztere sind sich ihrer Singularität deutlicher bewußt als die Generationen vorher. Ihr Kerngedanke: Ich will nicht nur mich und meine Familie ernähren, will nicht nur Erfolg und Karriere, sondern auch mein Selbst (was immer das sei) in einer sinnvollen Aufgabe verwirklichen. Sinn — das scheint mir die nachgefragte Kategorie zu sein.
Ist diese Erwartung einzulösen? Können Unternehmen das bieten? Sollten sie es bieten?
Mit Martin Heidegger im Rücken kann man Sinn definieren als das durch Vorgabe strukturierte Woraufhin, aus dem etwas verständlich wird. Ein Worumwillen. Es zu kennen, ist praktisch. Nach Friedrich Nietzsche: „Hat man sein WARUM? des Lebens, so verträgt man sich mit fast jedem WIE?“ Man kann also sagen, daß der „Wille zum Sinn“ (Viktor Frankl) etwas ist, das wesenhaft zum Menschen gehört. Wenn die Tätigkeit als sinnlos erlebt wird, dann wird es schwierig: „Wer nach dem Sinn fragt, ist krank.“ Freud hat das gesagt. Er verweist damit auf das Verhältnis von Mittel und Zweck. Die Sinnfrage stellt sich so lange nicht, wie Mittel und Zweck in einem vernünftigen Verhältnis stehen und zustimmungsfähig sind.
Der Sinn des Unternehmens
Ist das im modernen Unternehmen der Fall? Was Mittel und was Zweck ist, war einst unstrittig: Ein Unternehmen produzierte Waren und Dienstleistungen, um Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Es war also Mittel zum Zweck. Heute, vor allen in Großunternehmen, hat sich die Relation umgedreht. Das Unternehmen ist Selbstzweck geworden. Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten — das sind die Mittel. Niemand widerspricht mehr, wenn die Steigerung des Unternehmenswertes als Zweck des Unternehmens ausgewiesen wird. Der Sinn des Unternehmens ist auf das Unternehmen zurückgebogen.
Aber: Wir müssen atmen um zu leben; wir müssen nicht leben um zu atmen. Die Renditeerwartungen der Investoren zum Zweck der Veranstaltung zu machen, verwechselt notwendige und hinreichende Bedingung. Um es deutlich zu sagen: Der Zweck eines Unternehmens ist es nicht, Profit zu machen. Profit ist nur ein Indikator für erfolgreiches Arbeiten und eine notwendige Bedingung. Er soll eine „Not wenden“, das Überleben sichern. Warum? Um etwas entstehen zu lassen, was außerhalb seiner selbst liegt.
Das gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die leicht vergessen werden: Arbeit ist immer Arbeit für andere. Es braucht einen Adressaten, einen Empfänger, in dessen Leben mein Produkt oder meine Dienstleistung einen Unterschied macht. Motivation, Leistungsdrang und Arbeitszufriedenheit sind jedenfalls mit dem Zwang zum Geldverdienen nicht hinreichend erklärbar.
Ein anständiges Unternehmen, das einen Unterschied in der Lebensqualität der Kunden machen will, darf daher kein Selbstzweck sein. Es ist dafür da, das Leben der Kunden leichter, besser, schöner zu machen. Dadurch, daß es Möbel, Autos, Elektrogeräte oder Dienstleistungen verkauft. Alles andere folgt. Erfolg ist, was folgt. Die Steigerung des Unternehmenswertes direkt anzusteuern, gleichsam unter Umgehung des Kunden, erzeugt Sinnlosigkeit. Zynismus. Demotivation. Burnout.
Vorgegebener Blödsinn versus individuell erfundener Sinn
Damit wäre das Grundsätzliche benannt. Aber was heißt das für den einzelnen? Die Unternehmen scheuen sich ja nicht, den Mitarbeitern Sinn gleichsam zu „verordnen“, mindestens aber vorzugeben. Man hat dann Visionen, folgt Missionen, will der Größte werden, den Unternehmenswert mehren — oder schlicht nur ein Ebitda von X Prozent erreichen. Mehr noch: Sie werfen ein allumfassendes Sinnangebot auf den Markt. Sie stehen für „Werte“, gar für „Philosophien“, für „Tradition“ oder wahlweise für „Fortschritt“, für die Großwort-Ruine „Nachhaltigkeit“ sowieso. Ja, und Weltenrettung ist ihre eigentliche Aufgabe, hinter der das Brauen von Bier sich schamvoll versteckt. Überall wimmelt es von grotesk überdehnten Bekenntnissen zum Gemeinwohl, zur Ökologie, zur gesellschaftlichen Verantwortung. Konkretisierung ist dabei nicht zu befürchten.
Wenn ein Sinndefizit moderner Arbeit beklagt wird, dann mangelt es nicht an einem „höheren“ Sinn, sondern an einer Engführung der Möglichkeiten individueller Sinngebung. Zu dominant ist ein verordneter Eindeutigkeitssinn. Man soll sich mit dem Unternehmen „identifizieren“, soll die Arbeit „lieben“, man will den ganzen Menschen, seine Hand, sein Hirn und sein Herz.
Deutlich ist die Tendenz zum Totalitären, die einer Logik der Entgrenzung folgt: Sinn wird nicht mehr vom einzelnen gegeben, sondern vom Unternehmen vor-gegeben. Man versucht zu motivieren für etwas, was sich offensichtlich nicht logisch und selbsterklärend ergibt. Man sagt den Mitarbeitern nicht, daß sie ein Boot bauen sollen, sondern erzählt ihnen was von der „Sehnsucht nach dem weiten Meer“. Und auch die gleichnishafte Arbeit im Steinbruch ist nichts wert, wenn man nur einen Job braucht und damit nicht gleich Kathedralen errichten will.
Dieser Sinn ist Blödsinn. Es gibt nämlich keine administrative Erzeugung von Sinn. Sinn ist nicht etwas, das im Regal liegt und man bei Bedarf herausholen kann. Der einzelne gibt den Dingen Sinn. Sinngebung, nicht Sinnnehmung. Und dieser Sinn ist so unterschiedlich wie die Menschen im Unternehmen. Das mag für den einen sein, seine Familie zu ernähren. Für den anderen der soziale Austausch. Für den dritten Unterhaltung. Ein vierter braucht einfach nur eine finanzielle Grundlage für seine Hobbies. Und dieser Sinn ist auch belastbar, auch bei holprigen Wegstrecken. Was ist daran falsch? Nur weil ihm das Glamouröse fehlt? Das Pathos?
Sinn ist nicht etwas, was wir vor-finden, sondern er-finden. Deshalb kann man ihn auch nicht suchen. Und Unternehmen sollten sich nicht anmaßen, diesen Sinn als Eindeutigkeitssinn zu oktroyieren. Unternehmen sind keine Kirchen. Anstand bedeutet hier Abstand. Das anständige Unternehmen verweigert sich jeder Sinnstiftung. Ganz bewußt und ausdrücklich. Es offeriert keine Visionen und verspricht kein Heil. Es unterläßt jede Sinnbewirtschaftungsmaßnahme. Es bemüht sich vielmehr, die Möglichkeiten individueller Sinngebung nicht zu sehr zu verengen. Nur dann verhält es sich respektvoll, wertschätzend und anständig.
Geboren 1953 in Essen, hat in Bochum Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft berät Reinhard K. Sprenger alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, sind in viele Sprachen übersetzt und haben eine gewaltige Wirkung entfaltet, indem sie die Wirklichkeit in den Unternehmen in fast 25 Jahren von Grund auf und dauerhaft verändert haben.