Prof. Dr. Dres. h.c. Rolf Dubs
Rubicon: Herr Dubs, wenn Sie auf Ihre beeindruckende Karriere als Wirtschaftsführer und akademischer Vordenker zurückblicken: Kann der gesellschaftliche Wertewandel für ein Unternehmen tödlich sein?
Dubs: Zu lange ließen sich viele Führungskräfte der Wirtschaft und auch die Lehre vom Modell der Gewinnmaximierung und des Homo Oeconomicus leiten, das auf rein materiellen Wertvorstellungen beruht, aber die wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich geprägt hat. Zum Teil bis heute hat man die Gefahren dieses Modelles (Umweltprobleme, unfaires Verhalten, Intransparenz bei der Führung von Unternehmungen) nicht richtig erkennen wollen. Erst in den letzten zehn Jahren veränderte sich das unternehmerische Denken vielerorts, weil erkannt wurde, daß die ausschließlich materialistische Wertorientierung den Fortbestand von Unternehmungen gefährden kann, weil die Öffentlichkeit infolge von Fehlentwicklungen immer mehr staatliche Regulierungen und Verbote zu fordern begann, die für den Fortbestand von Unternehmungen häufig gefährlich geworden sind.
Rubicon: Kann ein Unternehmen diesen Wertewandel in irgendeiner Weise voraussehen oder sich auf ihn vorbereiten?
Dubs: In unserer Zeit des raschen Wandels, der Informationsfülle und der Polarisierung in der Gesellschaft läßt sich ein Wertewandel nicht mit Sicherheit voraussagen. Umso wichtiger ist es, daß die Leitungsorgane von Unternehmungen kürzerfristig erkennbare Veränderungen von Werten in unserer Gesellschaft bewußt wahrnehmen und sie in durchdachter Weise in ihre strategischen Entscheidungen einfließen lassen. Das dazu wichtige normative Management muß zu einer steten Aufgabe aller Leitungsorgane von Unternehmungen warden.
Rubicon: „Wertewandel hin oder her, letztlich zählt nur der Gewinn“. Was genau entgegnen Sie dieser Aussage?
Dubs: Auf den Gewinn der Unternehmungen kann in einer Marktwirtschaft nicht verzichtet werden. Er ist unabdingbar. Aber das Ziel von Unternehmungen und vor allem ihrer Eigentümer darf angesichts der vielen Fehlentwicklungen nicht mehr ein maximaler Gewinn sein, der oft zur Rücksichtslosigkeit verführt, sondern anzustreben ist ein Gewinn unter Nebenbedingungen, d.h. die Tätigkeit der Unternehmung ist neben den wirtschaftlichen Absichten auf Nachhaltigkeit auszurichten, indem ihre Leitungsorgane aus eigener Verantwortung heraus ein unternehmerisches Verhalten wählen, das auch dem Wohle der ganzen Gesellschaft dient (z.B. Schutz der Umwelt, faire Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden, vernünftig transparentes Verhalten).
Rubicon: Wenn Sie Management damals, als Ihre Karriere begann, mit heute vergleichen: welche Managementnorm hat sich fundamental verändert?
Dubs: Zunächst darf man für die Schweiz sagen, daß die Unternehmungen dazu beigetragen haben, unsern Wohlstand zu verbessern. Immer mehr verloren gehen aber Manager (keine Regel ohne Ausnahme), die ihre Aufgabe nicht mehr so verstehen, wie es früher für gute Patrons üblich war. Lohnexzesse für das Topmanagement, Fairness im unternehmerischen Wettbewerb, nicht optimale Arbeitsbedingungen für die Belegschaft und geringe Bereitschaft für die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl sind für mich Zeichen für gefährliche Entwicklungen auch im schweizerischen Erfolgsmodell. Egoisten stehen im Vordergrund, und alle ihre Ziele sind stark Ich-bezogen.
Rubicon: Zwischen „legal“ und „legitim“ gibt es einen Spielraum, der schwierig zu managen ist. Legal bedeutet noch nicht legitim und umgekehrt. Wer bestimmt, was legitimes bzw. illegitimes Wirtschaften eines Unternehmens ist?
Dubs: Legalität, also die Einhaltung aller Rechtsvorschriften, ist für das langfristige Überleben einer jeden Gesellschaft unabdingbar. Infolge der zunehmenden Komplexität kann aber je länger desto mehr nicht mehr alles rechtlich geregelt werden, so daß die Legitimität des Tuns von Leitungsorganen in Unternehmungen im Interesse einer gesunden Entwicklung der Wirtschaft und ihrer Beziehungen zu der Bürgerschaft immer bedeutsamer wird. Legitim ist ein unternehmerischer Entscheid, wenn die Leitungsorgane ihre Ansprüche aus einer beabsichtigten Handlung einerseits und andrerseits ihre Berechtigung unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschenwürde und der unantastbaren moralischen Rechte jeder betroffenen Person rechtfertigen können. Unter diesen Voraussetzungen sind unternehmerisches Handeln und Gewinnerzielung jederzeit gerechtfertigt.
Die konkrete Festlegung dieser dem unternehmerischen Handeln zugrunde zu legenden Kriterien und der dahinterstehenden Werte ist nie in „objektiver“ Weise machbar. Sie kann nur im Rahmen einer Diskursethik erfolgen, die dann gelingt, wenn sich die Leitungsorgane im Diskurs unter Beachtung der vorher erwähnten Kriterien auf die Werte, die für die eigene Unternehmung gelten sollen, einigen können. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sich diese Personen wechselseitig als mündige Personen, die argumentationsfähig sind, anerkennen und den Dialog sachlich und ohne vorgefaßte Meinungen führen können. Dieses Ziel wird erst erreicht, wenn sich Verwaltungsräte nicht mehr nur aus Finanz- und Wirtschaftsspezialisten zusammensetzen, sondern Vertretende aller Stakeholder (auch solche mit nicht nur herkömmlichen wirtschaftlichen Ideen) in Verwaltungsräten Einsitz finden.
Entscheidend für Verwaltungsräte ist, daß sie diesen Diskurs permanent führen, und sie dessen Ergebnisse stets in die Strategie der Unternehmung einfließen lassen, sie also bewußt über die der Unternehmung zugrunde liegenden Werte reflektieren. Ob sich damit die Nachhaltigkeit der Unternehmensführung verbessert, hängt jedoch nicht nur von den Leitungsorganen einer Unternehmung, sondern auch von den Investoren und weiteren Bevölkerungsgruppen ab. Solange die Investoren weiterhin höchste Dividenden wünschen, und die Konsumenten und Rentner größte egoistische finanzielle Ansprüche stellen, kann sich das unternehmerische Verhalten nicht verändern. Hier liegt wahrscheinlich das große Problem für Manager: Ihre Bemühungen um eine nachhaltige Unternehmensführung sind solange wirkungslos, als die Investoren nur an Gewinne denken. Deshalb ist die Kritik am Verhalten von Führungskräften über von ihnen verantwortete Fehler solange nicht berechtigt, als auch in der breiten Öffentlichkeit kein Umdenken stattfindet.
Rubicon: Heute spricht man von einer informellen Betriebsbewilligung, welche das Unternehmen in seinem gesellschaftlichen Umfeld löst, der sogenannten „licence to operate“. Klaus Schwab vom WEF beispielsweise hat vernehmbar immer wieder mit diesem Begriff argumentiert: das Unternehmen erhält das „Recht“ zu wirtschaften von der Gesellschaft, in deren Rahmen es operiert. Diese informelle Lizenz basiert also auf (öffentlich) wahrgenommener Legitimität und stillschweigend gegebenem Vertrauen. Ihr Maßstab sind kollektive Werthaltungen, und diese münden in moralische Erwartungen gegenüber dem Unternehmen. Gesetzt, die Unternehmensführung mißachtet Ihren vorhin gegebenen Ratschlag, sich mit der Dynamik dieser Werte strategisch auseinanderzusetzen: Wie rasch kann ein Unternehmen die „licence to operate“ verlieren?
Dubs: Dieser Begriff der „licence to operate“ erscheint mir als sehr theoretisch, zu selbstverständlich und langfristig vielleicht als sogar gefährlich. In einer Marktwirtschaft muß jedermann das Recht haben, eine Unternehmung zu gründen und die normative Grundhaltung selbst zu präzisieren. Wenn man nun davon ausgeht, die Legitimität — wenn auch vorderhand noch stillschweigend — als allgemeine Erwartung vorauszusetzen, dies aber deutlich ausspricht, besteht die Gefahr, daß „Weltverbesserer“ letztlich auf die Idee kommen, diese „licence to operate“ auch noch zu generalisieren und zu regulieren, wodurch die unternehmerische Freiheit noch weiter beschränkt wird. Deshalb sollte man auf solche wohlmeinenden, aber wenig aussagekräftigen Begriffe verzichten. Das normative Management ist eine zu komplexe Führungsaufgabe für jede Unternehmensleitung, die man nicht mit Generalisierungen umschreiben und regulieren kann.
Rubicon: Wie kann man ganz konkret eine Strategie darauf hin überprüfen, ob sie mit moralischen Erwartungen des Umfelds kollidiert oder kollidieren wird?
Dubs: Das Ziel moderner Unternehmensführung muß es also sein, in den Strategien auch die Nachhaltigkeitsaspekte bedacht einzubauen. Dazu entwerfen heute fortschrittliche Unternehmungen ESG- Kriterien (ökologische Kriterien, soziale Kriterien und Governance-Kriterien), die in der Unternehmensstrategie ihren Niederschlag finden. Auch diese konkreten Kriterien sind wertgebunden und nicht „objektiv“ bestimmbar, sondern sie beruhen auf den Ergebnissen des Dialogs über die Nachhaltigkeit in einer jeden Unternehmung. Viele Untersuchungen zeigen, daß in immer mehr Unternehmungen solche ESG-Kriterien für die strategische Planung verwenden. Interessant ist, daß solche Unternehmungen im Konsumgütersektor im weitesten Sinn trotz der Nebenbedingungen beim Gewinn langfristig höhere Gewinne erzielen, sofern sie ihre strategischen Maßnahmen mit den ESG-Kriterien bekannt machen. Deshalb rapportieren bereits heute zunehmend mehr Unternehmungen im Geschäftsbericht oder in einer gesonderten Publikation über ihre Nachhaltigkeitsmaßnahmen. Wahrscheinlich spielt hier die zunehmende Bedeutung der Nachhaltigkeit bei vielen Leuten eine wichtige Rolle: Je mehr sich eine Unternehmung in offener Weise ehrlich um ESG-Ziele bemüht, desto mehr Vertrauen findet sie bei den Konsumenten. Für die Produktionsgüterindustrie ist dieser Trend wissenschaftlich (noch) nicht nachweisbar.
Rubicon: Nachdem Cäsar am 10. Januar 49 v. Chr den Rubicon überschritten hatte, begann die Halbwertszeit seiner Legitimität, welche mit seiner Erdolchung endete. Macht ist zeitlos, während über die Werte, welche die Macht legitimieren, der Zeitgeist entscheidet. Welche Wertvorstellungen würden Sie primär nennen, welche Macht — man spricht dann von „Verantwortung“ — im Managementkontext gesellschaftlich legitimieren?
Dubs: Jedermann betrachtet die Übernahme von Verantwortung bei allen Aktivitäten als Selbstverständlichkeit, obschon der Verantwortungsbegriff sehr vieldeutig und nicht „objektiv“ bestimmbar ist. Deshalb komme ich für den Bereich der Unternehmensführung auf die oben angesprochene Diskursethik zurück. Die Unternehmungen nehmen dann Verantwortung wahr, wenn sie ihre Ergebnisse zur Nachhaltigkeit aus ihren Dialogen in der der Strategie umsetzen. Je intensiver dies unter dem Gesichtspunkt von ESG getan wird, umso schwieriger wird es jedoch, eine ESGPolitik zu beschließen, weil letztlich alle Bemühungen um diese Thematik immer wieder zu Zielkonflikten führen und nicht jedermann befriedigen. Idealisten und „Weltverbesserer“ haben für alles eine Patentlösung. Der reflektierende Mensch weiß aber, daß es heute kaum mehr ein Problem gibt, das nicht einen Zielkonflikt beinhaltet, das heißt, es gibt keine einzig richtige Lösung, sondern jede mögliche Lösung hat Vorteile und Nachteile. Der gekonnte Umgang mit Zielkonflikten wird wohl in Zukunft die wichtigste Fähigkeit für die erfolgreiche Führung von Unternehmungen. Es wird nie gelingen, eine nachhaltige Strategie zu entwerfen, die undiskutabel ist. Dies gilt vor allem für solche Leute, welche die Gewinnorientierung grundsätzlich „verteufeln“. Um dies an einem eigenen Beispiel zu zeigen: Ich wollte einmal als Verwaltungsratspräsident in „meiner“ Unternehmung mit 80% ausländischen Mitarbeitenden (hauptsächlich Frauen) eine kostenlose Kinderkrippe für Mitarbeitende einführen, weil die Gemeinde dazu nicht in der Lage war. Ich mußte aber die Idee aufgeben, weil die Unternehmung, die in einem grundlegenden Umbruch stand, die finanziellen Mittel dafür letztlich nicht aufbringen konnte. In der Öffentlichkeit wollten aber nur wenige Leute an einen Zielkonflikt glauben. Sie sprachen vom „Gewinnmaximierer“ mit wenig sozialem Verständnis.
Rubicon: Der Philosoph Alasdair MacIntyre ist ein in die Vereinigten Staaten ausgewanderter Ire. Und wie der irische Whisky schmeckt seine Philosophie. Sie kritisiert den Manager als hochproblematische Rolle, wenn sich dieser auf Effizienz beruft und sich deshalb gesellschaftlichen Werthaltungen neutral gegenüber sieht. Teilen Sie diese Kritik? Was würden Sie einem Manager antworten, der davon überzeugt ist, Management sei wertfrei?
Dubs: Ich hoffe, meine Antworten belegen, daß es eine wertfreie Wirtschaft und Unternehmensführung nicht geben kann. Die Vorstellung einer wertfreien Wirtschaft ist ein Unsinn, denn selbst die Gewinnmaximierung geht von einer Werthaltung aus, die allerdings nicht mehr vertretbar ist, soll unsere Gesellschaft langfristig nicht zugrunde gehen.
Rubicon: Existiert ein Buch, das Sie unseren Lesern zu all diesen Fragen empfehlen?
Dubs: In einer kleineren Schrift* habe ich versucht, die hier vorgestellten Gedanken zu vertiefen. Deshalb empfehle ich es für den Einstieg. Vertiefende Literatur ist in dieser Schrift angeführt.
Prof. Dr. Dres. h.c. Rolf Dubs
Ehemaliger Direktor des Instituts für Wirtschaftspädagogik, ehemaliger Rektor der Universität St. Gallen. Dr. h. c. der Wirtschaftsuniversitäten Wien und Budapest sowie der Technischen Universität Dresden und Dr. h.c. der SEE-Universität Tetovo. Als Gastdozent war Rolf Dubs unter anderem an der Harvard University, der Stanford University, der University of Texas und der Michigan State University tätig. Er fungiert(e) als Präsident und Mitglied des Verwaltungsrates verschiedener Firmen (Bank Julius Bär, Schindler Holding AG) und ist seit vielen Jahren in der Ausbildung von Verwaltungsräten tätig. Er setzte sich sein Leben lang mit pädagogischen und bildungspolitischen Fragen auseinander und war maßgeblicher Treiber für die Einführung des Fachs Wirtschaft an den Schweizer Gymnasien.