Integrität muss gemeinschaftlich gestaltet werden

Prof. Dr. Martin Hartmann

Weshalb kann ein Mafiosi nicht integer sein?

Wenn wir an den Wert personaler Integrität denken, denken wir in der Regel an Eigenschaften einzelner Individuen. Wir nennen eine Person integer und nicht so sehr eine Gruppe, ein Kollektiv oder gar noch größere Einheiten wie Organisationen oder Länder. Was wir meinen, wenn wir einer Person Integrität zusprechen, ist dabei nicht immer ganz klar, aber es gibt doch einige Intuitionen, die wir hier ausbuchstabieren können: Wer integer ist, läßt sich nicht leicht korrumpieren, er steht zu seinen Prinzipien, hält auch dann an ihnen fest, wenn äußerer Druck ihre Aufgabe nahe legt. Da in diesem Sinne auch der Mafiosi integer sein kann, sollte noch hinzugefügt werden, daß die Prinzipien, an denen jemand festhält, einen moralischen Gehalt haben müssen – die Rede von der „Integrität“ des Kriminellen oder des Fanatikers käme uns eigenartig vor, obwohl beide vielleicht auch gegen Widerstände an ihren leitenden Handlungsprinzipien festhalten. Wir müssen, mit anderen Worten, die Prinzipien, an denen jemand unter widrigen Umständen festhält, für moralisch akzeptabel halten. Wir teilen sie nicht unbedingt, aber wir schätzen sie als hinreichend wertvoll ein und zollen der integren Person Respekt, weil sie zu ihren Werten steht.

Was den aufrechten Gang gewährt

Beispielhaft für Integrität mag eine Figur aus dem Film Zwei Tage, Eine Nacht der Brüder Dardenne sein. Sandra arbeitet in einer kleinen Solarzellenfabrik und soll ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Unternehmensleitung während einer Krankschreibung Sandras gemerkt hat, daß ihre Kollegen den Verlust von Sandras Arbeitskraft durch Überstunden kompensieren können. Bevor Sandra jedoch entlassen wird, kann die Belegschaft darüber abstimmen, ob sie für die geleistete Mehrarbeit eine Prämie erhalten oder aber unter Verzicht auf die Prämie Sandras Arbeitsplatz erhalten möchte. Die Abstimmung fällt für Sandra negativ aus, die Kollegen entscheiden sich mehrheitlich für die Prämie. Da sich einige Kollegen jedoch weiterhin für Sandra einsetzen, erlaubt der Unternehmenschef eine weitere Abstimmung und räumt Sandra die Möglichkeit ein, vorher mit sämtlichen Kollegen ihres Teams zu sprechen. Sandra muß also in vielen Einzelgesprächen ihre Kollegen darum bitten, auf die Prämie zu verzichten. Man kann sich denken, wie demütigend diese Gespräche zum Teil verlaufen, immer wieder will Sandra aufgeben, wird jedoch von ihrem Mann ermuntert, das Handtuch nicht zu werfen.

Am Ende verliert Sandra aber auch die zweite Abstimmung. Als sie enttäuscht das Gelände der Fabrik verlassen will, wird sie zu ihrem Chef gerufen, der ihr überraschend in Aussicht stellt, sie weiterhin zu beschäftigen. „In dem Bemühen“, so sagt er, „die Wogen in der Belegschaft zu glätten, werde ich sowohl die Prämien bewilligen als auch sie wieder eingliedern. … Ende September werde ich einen befristeten Arbeitsvertrag nicht verlängern, dann können sie zurückkommen.“ Sandra scheint am Ziel ihre Kampfes angekommen, doch sie erwidert ruhig: „Ich kann nicht von jemanden den Platz einnehmen, der nur entlassen wird, damit ich zurückkommen kann.“ Der Chef erwidert: „Das ist keine Entlassung. Es wird einfach nur der Vertrag nicht verlängert.“ Sandra: „Das ist dasselbe.“ Ihr Chef: „Nein.“ Sandra, sich erhebend: „Auf Wiedersehen, Monsieur Dumont.“ In der Schlußeinstellung läuft Sandra allein durch die unwirtliche Fabrikumgebung und telefoniert mit ihrem Mann: „Manu, wir haben uns gut geschlagen. Ich bin glücklich.“ Sie lächelt.

Diese Schlußeinstellung zeigt eine integre Frau, die einem anderen nicht das Schicksal zumuten möchte, das sie selbst ereilt, nämlich den Verlust des Arbeitsplatzes. Sie hat für Solidarität gekämpft und nicht für eine Ökonomie des Nullsummenspiels, in der der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist. Und sie hält an diesem Wert fest, obgleich das für sie dramatische Konsequenzen hat. Daß sie „glücklich“ ist, muß heißen: Ich habe mich nicht verbogen, habe das schmutzige Spiel nicht mitgemacht und kann mich weiterhin im Spiegel anschauen. Integrität heißt hier also tatsächlich, die eigenen Werte auch gegen Widerstände nicht verraten und sie gewährt Sandra den aufrechten Gang, mit dem sie am Ende in eine ungewisse Zukunft geht.

Wall Street: Mangel an Integrität?

Wenn wir einverstanden sind mit dieser Lesart von Integrität, stellt sich freilich die Frage, wie beispielhaft Sandra sein kann. Wäre Integrität auch die richtige Kategorie, um das Verhalten ihrer Kollegen und ihres Vorgesetzten zu deuten und zu kritisieren? Im Zusammenhang mit den Bankenskandalen der letzten Jahre heißt es oft, es hätte den Mitarbeitern der Banken an Integrität gefehlt. Der amerikanische Rechtswissenschaftler Jonathan Macey etwa hat jüngst eine Studie mit dem Titel The Death of Corporate Reputation. How Integrity Has Been Destroyed on Wall Street versehen. Mangelnde Integrität, so legt dieser Titel nahe, hat maßgeblich zu den Auswüchsen der Finanzkrise beigetragen. Der Mangel, um den es hier geht, scheint vor allem in Unehrlichkeit, Unaufrichtigkeit und einer blinden Orientierung an Gewinnmaximierung bestanden zu haben. Will man Unternehmen wieder zu „ethischen“ Unternehmen machen, dann, so scheint es, muß es vor allem darum gehen, über ein integres Personal zu verfügen, das sich in seinem alltäglichen Verhalten auf nachvollziehbare Weise an moralisch akzeptable Prinzipien hält.

Dies ist die Perspektive einer philosophisch inspirierten Unternehmenskritik, die sich in der breiteren Öffentlichkeit einer großen Beliebtheit erfreut. Wir haben einen Wert – Integrität –, der leider zu wenig „gelebt“ wird in der global entfesselten Marktwirtschaft. Die Philosophie empfiehlt nun, diesen Wert stärker in der Praxis der Unternehmensführung zur Geltung zu bringen, dann könnten sich einige der beklagten Probleme von selbst lösen. Zwei Tage, Eine Nacht macht aber deutlich, daß diese Perspektive zu einfach ist, auch wenn es in diesem Film nicht direkt um Banken geht. Die Kollegen von Sandra, die sich bis zuletzt für die Prämie und damit gegen Sandra entscheiden, sind nicht einfach amoralisch. Fast alle haben ein schlechtes Gewissen und würden dem Gespräch mit Sandra gerne ausweichen. Manche erwähnen, wie dringend sie die Prämie brauchen, um sich finanziell über Wasser zu halten – fast alle haben Familien und fast alle haben sich, wie Sandra selbst, verschuldet, um ein Eigenheim zu finanzieren. Andere drücken lebhaft ihr Bedauern aus. Wenn wir einräumen, daß es moralisch legitim ist, sich auf diese Weise um sich und die Seinen zu sorgen, dann wird unklar, was Integrität hier heißen könnte. Auch die Unternehmensführung erwähnt an einem Punkt den starken Druck, der durch die chinesische Konkurrenz für den lokalen Produktionsstandort entstanden ist.

Was richtig ist, ist nicht vorentschieden

Bloße Appelle an die Integrität des Personals würden folglich kaum weiterhelfen, weil ganz undeutlich wäre, was das in diesem Zusammenhang bedeutet kann und was daraus folgen sollte. Integrität, das hat der Philosoph Hans Bernhard Schmid in seiner Studie Moralische Integrität deutlich gemacht, personalisiert moralische Problemlagen, indem sie das ganze Gewicht der Moral auf das Verhalten des einzelnen legt. Der einzelne bewegt sich aber, das macht Zwei Tage, Eine Nacht sehr klar, in Strukturen, die er nicht immer oder nur bedingt selbst geschaffen hat und die gewisse sei es konditionale Zwänge nach sich ziehen: Wenn wir im Markt überleben wollen, dann müssen wir… Wenn du ein Eigenheim erwirbst, dann solltest du… Auch sind Sandras Kollegen nicht einfach offen unsolidarisch, sie leiden vielmehr an einem genuinen Wertkonflikt, in dem nicht vorentschieden ist, was moralisch richtig und was falsch ist. Integrität kann also nicht einfach heißen: tue, was moralisch richtig ist, auch wenn das einen hohen Preis hat, weil oft nicht so klar ist, was die Moral verlangt. Die Entscheidung für Sandra hätte für viele ihrer Kollegen einen wortwörtlich hohen Preis, und es wäre moralistisch, von ihnen zu verlangen, diesen Preis zu zahlen. Etwas provokanter könnte man sagen: Es wäre geradezu unmoralisch, von ihnen den Verzicht auf die Prämie zu verlangen, da ihr Interesse am Wohl der Familie nicht per se unmoralisch ist.

Wenn diese Überlegungen stimmig sind, bleibt natürlich undeutlich, was wir mit Integrität nun eigentlich anfangen können. Sandras Verhalten bleibt ja ein bewundernswertes Beispiel für Integrität, daran soll gar nicht gezweifelt werden. Hätte sie sich dafür entschieden, daß der befristet angestellte Kollege die Kündigung erhält, damit sie wieder eingestellt werden kann, wären wir enttäuscht, da Sandra dann die Werte, für die sie doch gekämpft hat, verriete. In gewisser Weise wäre aber natürlich eine Welt besser, in der solche Entscheidungen gar nicht erst nötig werden, weil zum einen klarer wäre, was moralisch gefordert ist, und weil zum anderen Bedingungen und Strukturen vorhanden wären, in denen es leicht fiele, den Forderungen der Moral zu folgen. Doch das ist nicht die Welt, in der wir leben. In unserer Welt gibt es immer wieder echte moralische Dilemmata, die uns zwingen, zwischen mehreren moralisch durchaus akzeptablen Alternativen wählen zu müssen. So entscheidet sich Sandra am Ende auch nicht einfach für die Moral und gegen die Unmoral und ist deswegen integer. Sie entscheidet sich dafür, den Wert, nennen wir ihn Solidarität, den sie von anderen einfordert, angesichts einer attraktiven Alternative, nennen wir sie ökonomische Sicherheit für sich und die eigenen Familie, nicht preiszugeben. Nur weil die Alternative, die sich für sie unerwartet eröffnet, geradezu existenziell attraktiv ist, bewundern wir ihr Festhalten am Wert der Solidarität, der von ihr ein hohes Opfer verlangt.

Integrität ist ein gemeinschaftlicher Wert

Wie angedeutet, sollten wir nicht meinen, daß solche Situationen, in denen wir Opfer bringen können, selten sind. Es gibt mehr Gelegenheiten, Integrität auszuüben, als wir wahrhaben wollen. So ist auch der einzige Vorwurf, den man manchen Kollegen von Sandra machen kann, der, daß sie das Opfer nicht sehen wollen, das ihre Entscheidung für die Prämie mit sich bringt. Manche machen die Tür einfach nicht auf und verpassen dadurch gleichsam die Gelegenheit, den Konflikt, in dem auch sie sich befinden, überhaupt zu registrieren. Wenn man so will, verpassen sie dadurch die Gelegenheit, selbst integer zu sein. Das hätte, es sei wiederholt, nicht bedeutet, daß sie moralischer als andere gewesen wären. Es hätte aber bedeutet, daß sie sich einer Solidargemeinschaft zugehörig fühlen, die unter widrigen Umständen am Prinzip selbstloser Hilfe festhält. So betrachtet, ist Integrität nicht mehr ein rein individueller oder personaler Wert. Ganz im Gegenteil, sie ist ein Wert, der nur von einem Wir aufrechterhalten werden kann, das sich seiner zugleich nie ganz sicher ist. Immer wieder fragen Sandras Kollegen bei ihrem Treffen, wie viele andere Kollegen denn schon bei der endgültigen Abstimmung für sie stimmen wollen. Man mag sagen: Ist doch egal, unterstütze sie einfach! Das ist nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Die Integrität des einzelnen braucht die Unterstützung durch ein Wir, das ihm eine Art moralisches Geländer liefert. „Wir haben uns gut geschlagen“, sagt Sandra am Schluß zu ihrem Mann. Das Drama der Gegenwart besteht nicht zuletzt darin, daß wir dem Zerschlagen dieses Wir zu wenig entgegensetzen. Der Diskurs über individuelle Integrität könnte sogar ein Symptom dieses Vorgangs sein. Besser wäre es vielleicht, gemeinsam darüber nachzudenken, ob wir in einer Welt leben wollen, in der Solidarität mit anderen ein opfervoller Akt der Integrität sein muß.

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Prof. Dr. Martin Hartman

Prof. Dr. Martin Hartmann ist ein international anerkannter Experte in der Vertrauens- und Emotionsforschung. Er ist ordentlicher Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Luzern. Nach dem Studium der Philosophie, Komparatistik und Soziologie an der Universität Konstanz, an der London School of Economics und an der Freien Universität Berlin war er Mitarbeiter am berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung. Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsaufenthalte an der University of Chicago und am Maison des Sciences de l’Homme in Paris. Zudem ist er wissenschaftlicher Direktor des philosophischen Executive-Programms der Universität Luzern. Er schrieb den akademischen Bestseller „Die Praxis des Vertrauens“.