Prof. Dr. Enno Rudolph
Vom Ursprung des Marktes
Der Markt ist das Apriori der Politik — er ist früher als sie und er nötigt zur Politik. Der Markt gehört zum Menschen wie das Spielfeld zum Fußballprofi — er ist genuiner Ausdruck und Spielraum der natürlichen Neigung, seine Kompetenzen, Vorzüge und Talente zu vergleichen und anzubieten. Der ehrgeizige, wetteifernde und abschätzende Vergleich ist die Urform der Konkurrenz; das Angebot die der Preisangabe. Selbst JeanJacques Rousseau, Vordenker der französischen Revolution, der mit protomarxistischer Radikalität im Markt die Quelle der sozialen Ungleichheit und des zunehmenden Verfalls der Gesellschaft zu erkennen glaubte, räumte ein, daß bereits in den ersten ,unschuldigen‘ Vorformen menschlicher Gemeinschaften die plötzliche Entdeckung bestimmter Qualitäten, mit denen die Natur die Menschen ausgestattet hatte — Schönheit, Kunstfertigkeit, Kraft — eine begehrte Ware waren, die den ‚Marktwert‘ bestimmten, und deren Ökonomisierung den Verlust dieser Unschuld einläuten sollte.
Rousseaus Wunschtraum von der Wiederherstellung dieser Unschuld war, wie er selbst sehr wohl wußte, unerfüllbar. Als Kompensation erfand er das Modell der „totalitären Demokratie“, in der jeder gezwungen wurde, nur so viel zu produzieren bzw. zu erwerben, wie er zum Leben benötigt, nicht aber Eigentum zu kumulieren und nicht Preiswillkür walten zu lassen: Wir brauchten Marx nicht — wir hatten Rousseau. An der Geschichte des Marxismus läßt sich demonstrieren, was von dieser Versuchsanordnung zu halten ist. Keine Politik kann den Menschen auf Dauer zwingen, seine Natur von früh auf zu verleugnen. Der Markt ist natürlich. Der Mensch entdeckt sich und andere als Träger oder Produzenten von Waren, deren Wert durch die vergleichende Nachfrage bestimmt wird. Der Markt erweist sich früh als die ursprüngliche Lebensform sozialer Interaktion. Der Markt spiegelt ebenfalls von früh auf die diversen Versuche, unterschiedliche Markttypen entstehen zu lassen. Diese Diversität wie auch die sich daraus ergebende Pluralität der Märkte zu organisieren, ist Aufgabe eines Geschäfts, das wir bis heute Politik nennen. Diese Entdeckung führt zu dem Schluß, daß das Wirtschaften — Kauf und Verkauf, Gewinnerzielung, die Einführung des Geldes als Tauschmedium für Waren aller Art — als „Politik des Marktes“ bezeichnet werden kann: der homo oeconomicus ist primär, das zoon politikon (= der Mensch als politisches Tier) sekundär.
Freund und Feind
Was für die Politik generell gilt, gilt für ihre ursprüngliche Version in paradigmatischer Weise: die Politik des Marktes kennt keine Freunde, sie kennt nur Partner. Hingegen kennt sie nicht nur Gegner, sondern sie kennt Feinde. Carl Schmitt, führender Staatsrechtler in den 20er Jahren und später Hitlers „Kronjurist“, war nicht der erste, der zu dieser Einsicht gelangte, aber er war der erste, der sie zur Grundlage der gesamten staatlichen Rechtsprechung machen wollte: Der Feind ist derjenige, der nicht auf den Tod des Angefeindeten aus ist, sondern auf die Tilgung seiner Funktion, Rolle oder Position, sofern sie dem Feind im Wege steht. Der Tilgungsakt ist der Entschärfung einer Bombe vergleichbar. In diesem Sinne ist der Feind ein Stratege der Vernichtung. Nur wenn es ihm gelingt, ultimativ festzulegen, wessen Feind er ist, bzw. wen er als Feind identifiziert, um die entsprechende Strategie einzuleiten, kann er sich konkurrenzlos behaupten — etwa als Monopolist, — in Schmitts Terminologie: als „Souverän“.
Wer neu auf dem Markt erscheint, wäre schlecht beraten, wenn er nicht damit rechnen würde, daß er als Bedrohung angesehen und beobachtet wird. Von den Empfehlungen des ungebrochen aktuellen Begründers des modernen Politikverständnisses, Niccolò Machiavellis, die er den politischen Herrschern seiner Zeit zukommen ließ, können die ‚Fürsten‘ des modernen Marktes nur lernen: sie benötigen zum Erfolg die Fähigkeit, sowohl eine „Fuchsnatur“ als auch eine „Löwennatur“ anzunehmen; beide leben vom Tod der anderen, beide entscheiden, wessen Feind sie sind, oftmals erst in der Todesstunde. Der Begründer des modernen Liberalismus in Politik und Wirtschaft — der Engländer Thomas Hobbes — hat diese Beschreibung der Fürstentugend generalisiert.
Das zeitgenössische Unternehmertum hat wenig Ahnung davon, wie viel es diesen beiden Vordenkern verdankt. Hobbes’ Motto homo homini lupus (= der Mensch dem Menschen ein Wolf), das so populär werden konnte, weil seine Geltung permanent bestätigt wurde, verstand sich als eine Art weiterführende Radikalisierung Machiavellis: Im Interesse der Herstellung und Bewahrung seiner „Souveränität“ ist ein Herrscher oder Lenker, ein Führer oder Manager gut beraten, auch im beherrschten Volk, bzw. in dem ihm überantworteten Bereich mit Feindseligkeiten zu rechnen: als Souverän muß er zur Stelle sein, ehe diese überhaupt aufkeimen: Er muß denen zuvorkommen, die ihn zu ihrem Feind machen könnten — im genuinen Interesse seiner Souveränität.
Unternehmensmacht und Gründungsmoral
Fast jede Neugründung eines Unternehmens ist ein Vorgang, der vom Unternehmer fordert, mit potentieller und aktueller Feindschaft als Extremform von Konkurrenz und Gegnerschaft zu rechnen, und nicht auf Freundschaften zu bauen. Ein moderner Firmengründer muß seine moralischen Überzeugungen nicht suspendieren, aber er muß sie von den leitenden Maximen der wirtschaftlichen Interaktionen zu unterscheiden wissen. Er sollte nicht versuchen, moralischen Idealismus und ökonomischen Realismus unmittelbar miteinander zu kombinieren. Versuche dieser Art kosten Zeit und Energie, die der (potentielle) Feind nutzt. Markt und Moral sperren sich gegeneinander, wie Naturwissenschaft und Metaphysik. Die säkularisierte, ganz dem Diesseits zugewandte Welt hat uns mit dieser Einsicht leben gelehrt. Der ökonomische Realismus hat keinen konzeptuellen Platz für Moral, doch muß er den Markt deshalb weder zum Dschungel noch zum Schauplatz der Brutalitäten verkommen lassen. Im Gegenteil: der ökonomische Realismus ist nicht nur kompatibel mit Humanität, sondern er muß im Interesse der Optimierung der Interdependenz von Menschsein und Marktverhalten den Menschen ebenso markttüchtig halten, wie er den Markt humanisieren muß. Diese Dialektik zu erkennen und zu vermitteln ist Aufgabe der Wissenschaft; diese Balance zu halten ist Aufgabe der Politik.
Die Unternehmen aber dürfen sich von beiden — Politik und Wissenschaft — weder ihre Autonomie beschneiden noch ihre Verantwortung einschränken lassen. Ihre Verantwortung nehmen sie nicht wahr durch allmähliche Sozialdemokratisierung ihrer Organisationsstrukturen und durch abgepreßte Lohnanpassungen, auch nicht durch maximale Abflachung von Hierarchien, sondern durch den Austausch willkürlicher Hierarchien — Hierarchien des Proporzes, der Korruption oder der Anpassung — gegen natürliche, d.h. gegen gerechte Hierarchien: das sind — seit Platon — die Hierarchien der Qualitätsdifferenz, der Talente und der Begabungen. Beides — Autonomie bewahren und Verantwortung wahrnehmen — könnten Unternehmen in paradigmatischer Weise miteinander verknüpfen.
Prof. Dr. Enno Rudolph: Seit 2014 Leiter des Forschungsprojekts des Schweizerischen Nationalfonds „Neu-Edition von Niccolò Machiavelli: Il Principe“. Ordinarius für Philosophie (Schwerpunkt „Kulturphilosophie und Politische Philosophie“) an der Kultur– und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern (em. 2011), Mitgründer und Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift für Philosophie, zahlreiche Publikationen zu Kulturphilosophie und Politischer Philosophie. Sein neuestes Buch Das Recht der Macht erscheint demnächst im Velbrück Verlag in Frankfurt.