Ein Risiko ist genau dann untragbar, wenn???

Prof. Dr. Paul Burger

Könnten wir die Fragezeichen im Titel mit einer wohl definierten Menge von Kriterien ersetzen, würde das in vielen Fällen Entscheidungen substantiell vereinfachen. Leider ist das aber nicht bzw. nur bedingt der Fall. Dennoch lassen sich einige Kriterien angeben, die mit guten Gründen Bestandteil eines unternehmerischen Risikomanagements sein sollten.

Entscheidungen beinhalten immer Risiken

Allen unseren Entscheidungen, ob unternehmerische oder politische, sind Risiken inhärent. Das liegt in der Natur zielgerichteter menschlicher Handlungen und der mit der Zukunft einhergehenden Unsicherheiten. Erstens kann etwa die beabsichtigte Wirkung nicht eintreten, so daß nur Kosten (= Schaden) nicht aber ein Nutzen resultiert. Beispiele zuhauf hierfür bietet der Bereich der technischen Innovationen. Zweitens ist es denkbar, daß die beabsichtige Wirkung zwar eintritt, die dabei in Kauf genommenen Nebenwirkungen aber größeren Schaden verursachen als der erzielte Nutzen einbringt. Beispiele hierfür sind unschwer in der jüngeren Bankengeschichte zu finden. Drittens aber können auch nicht-intendierte Wirkungen resultieren, d.h. Phänomene auftreten, an die man nicht im entferntesten gedacht hat. Klassische Beispielfälle finden sich im Bereich der Medikamente.

Freiheit zum Risiko

Vor diesem Hintergrund könnte man argumentieren, daß es eigentlich keine allgemeinen Kriterien für untragbare Risiken gibt. So wie jede Basejumperin für sich entscheiden muß, ob das Risiko für sie tragbar ist, so muß jedes Unternehmen für sich entscheiden, welche Risiken es eingehen möchte — wie bei der Basejumperin verbunden mit der Möglichkeit, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Jedes Individuum und jedes Unternehmen muß für sich festlegen, welche Risiken tragbar oder eben nicht tragbar sind. Das entspricht einem liberalen Grundverständnis, wonach es nicht Aufgabe des Staats ist darüber zu entscheiden, was einzelne für wertvoll halten bzw. wie risikoreich einzelne handeln wollen.

Grenzen der Risikofreiheit

Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Basejumperin trägt allein die möglichen negativen Folgen für sie, während unternehmerische Entscheidungen in der Regel auch andere Menschen tangieren. Tangieren Entscheidungen auch andere Menschen, gilt aber nicht mehr nur meine Freiheit als Maßstab. Es ist ein Paar, das das Kernelement eines freiheitlich liberalen Staatsverständnis ausmacht: die eigene Freiheit und die Freiheit der anderen, die die Grenzen meiner Freiheit bilden. Das bedeutet, bezogen auf Risiko, daß die Berücksichtigung der Freiheit der anderen der unternehmerischen Risikobereitschaft Grenzen setzen. Daraus folgt sowohl unter einer ethisch-moralischen als auch einer legalistischen Perspektive die Verpflichtung, diese Grenzen in ein Kalkül für Tragbarkeit — Untragbarkeit eingehen zu lassen.

Kriterien für untragbar

In der neueren Literatur zu Risikomanagement findet sich ein erster Kandidat, das in ein derartiges Kalkül eingehen sollte: Ein Risiko ist untragbar, wenn das Eintreten des Falls als mögliche Konsequenz einen Zusammenbruch des Systems zeitigen könnte, in das man eingebettet ist. Das war und ist bekanntlich ein Kernpunkt in der Bankendebatte um „too big to fail“. Und das ist auf globaler Ebene der Kernpunkt der Diskussionen um Folgen des Klimawandels. Ein zweites allgemeines Kriterium innerhalb eines solchen Kalküls ist die Forderung nach Compliance mit den letztlich die Freiheiten der einzelnen regelnden rechtlichen Bestimmungen. Systematische, gezielte Verletzungen von Gesetzen (z.B. Steuern, Gesundheit) resp. international anerkannten Prinzipien (z.B. Menschenrechte) können nicht nur hohe Bußzahlungen zur Folge haben. Sie unterminieren die Freiheiten, auf denen ein freies Unternehmertum aufbaut. Schließlich sollte in ein Kalkül zu „tragbar-untragbar“ auch der Bereich der gesellschaftlichen Werte bzw. ihres Wandels eingehen. Risiken können ganz unterschiedlich beurteilt werden, je nach Maßgabe der zugrunde gelegten Werte. Werte und Wertewandel wiederum können gesellschaftliches Widerstandspotential aktivieren. Was aus unternehmerischer Perspektive legitim sein mag, muß noch lange nicht aus Perspektive der Öffentlichkeit legitim sein. Unternehmen tun gut daran zu berücksichtigen, ob Risiken auch gesellschaftlich akzeptiert werden.

Adaptives Risikomanagement

Obwohl sich also Kriterien angeben lassen, die in einen Kalkül „tragbar-untragbar“eingehen sollten, gibt es unter Absehung des Kriteriums „avoiding system failure“ keine scharf definierten Entscheidungskriterien. Das ist ein Grund, weshalb in der neueren wissenschaftlichen Literatur viel von „adaptivem Risikomanagement“ die Rede ist. „Adaptiv“ meint dabei nicht nur „anpassungsfähig“ gegenüber einer sich stetig verändernden Umwelt. Es geht auch um die Berücksichtigung von Diversität (unterschiedliche Marktsegmente z.B.), von Redundanz (z.B. bewußtes Inkaufnehmen von „Doppelspurigkeiten“, welche Risiken abfedern) und um die prospektive Antizipation des gesellschaftlichen Wertewandels. Vom unternehmerischen Risikomanagement her gesehen bedeutet das, die diesbezüglichen Fähigkeiten zum Lernen, zur Selbstorientierung und zur Kommunikation sicherzustellen. Damit können die Unternehmen die Wahrscheinlichkeit reduzieren, daß ein aus unternehmerischer Perspektive tragbares Risiko zu einem untragbaren wird.

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Prof. Dr. Paul Burger

Leiter des Fachbereichs Nachhaltigkeitsforschung im Departement Gesell schaftswissenschaften der Universität Basel. Er leitet den „Upper Rhine Cluster for Sustainability Research“ (Zusammenschluß von 60 Forschungs gruppen der 6 Oberrhein Universitäten) und ist Lead des Arbeitsbereichs 2 zu „Change of Behavior“ im SCCER-CREST, dem schweizerischen sozio-ökonomischen Energieforschungskompe tenzzentrum.