Digitalisierung: Unvollendbare Unsicherheitsreduktion

Dr. Hannah Mormann

Die Idee der Unsicherheitsreduktion

Was wann und von wem in einem Unternehmen bearbeitet werden soll, ist den Programmabläufen betriebswirtschaftlicher Software wie SAP eindeutig bestimmt. Arbeitsabläufe werden vereinheitlicht und als sogenannte ereignisgesteuerte Prozeßketten modelliert. Sachliche Unsicherheit (Was?) und zeitliche Unsicherheit (Wann?) sind verschwunden. Soziale Unsicherheit (Wer?), die aus der Unübersichtlichkeit von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten resultiert, wird durch die Definition von Benutzerrollen und Berechtigungskonzepte vollständig absorbiert.

Die Idee der Unsicherheitsreduktion ist natürlich nicht neu und auch keine Erfindung von Softwareentwicklern. Neu ist vielmehr die Rigorosität und die Umsetzung dieser Idee mit den Mitteln der Digitalisierung wie SAP und anderer Softwareprodukte.

Die Wegbereiter der Idee

Unsicherheitsreduktion ist ein Ideenkonstrukt von Ingenieuren. Vor langer Zeit sorgten Ingenieure mit ihren Überlegungen zur Systematisierung und Standardisierung in Organisationen für den Aufstieg ihrer Profession in das Management. Frederick W. Taylor, der Anfang des 20. Jahrhunderts Methoden zur Systematisierung und Standardisierung technischer Systeme entwickelte und diese auf die Gestaltung organisatorischer Zusammenhänge übertrug, ist sicherlich der berühmteste Repräsentant. In der Managementpraxis wurde die Idee der Unsicherheitsreduktion aufgegriffen und auch in der modernen Organisationstheorie wurde sie adaptiert.

Unsicherheitsreduktion gilt als allgemeines Konzept, mit dem unterschiedliche Formen der Systematisierung in Organisationen beschrieben und untersucht werden können.

Als Wegbereiter für eine moderne Organisationsforschung gilt Herbert A. Simon, der die Idee der Unsicherheitsreduktion ebenfalls aufgreift. In seinem entscheidungstheoretischen Ansatz behandelt er die begrenzte Rationalität des Entscheidungsverhaltens von Individuen und zeigt Möglichkeiten für die Gestaltung rationaler Entscheidungsprozesse in Organisationen auf. Grundlegend für Simons Organisationsverständnis ist die Dekomponierbarkeit von Entscheidungssystemen, d.h., die Gesamtziele einer Organisation können in Teilziele zerlegt und so aufeinander abgestimmt werden, daß sie zum Erreichen der Gesamtziele beitragen. Analysen des Entscheidungssystems und seines Datenbedarfs sollen dabei helfen, Differenzen zwischen Ist- und Soll-Zuständen in einer Organisation zu überbrücken und Arbeitsabläufe auf diese Weise effizienter zu gestalten.

Digitalisierung als Organisationsprojekt

Auf die Arbeiten von Simon bezieht sich auch der Soziologe Niklas Luhmann. Im Unterschied zu Simon löst er sich jedoch vollständig von den ingenieurtechnischen Grundlagen der Organisationstheorie. Den Möglichkeiten der gezielten Steuerung sozialer Zusammenhänge steht der Systemtheoretiker Luhmann allerdings skeptisch gegenüber. Die Zweck- bzw. Zielkategorie spielt für seine Organisationstheorie keine übergeordnete Rolle mehr. Stattdessen werden mit Entscheidungsprogrammen, Kommunikationswegen und Personal drei gleichrangige Strukturmerkmale in die Organisationsanalyse eingeführt, mit denen die Eigenlogik des sozialen Systems Organisation beschrieben werden kann. Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist die Implementierung von Software ein Organisationsprojekt par excellence. Schließlich soll mit der Software ein betriebswirtschaftliches Entscheidungsprogramm eingeführt und Arbeitsabläufe abteilungs- und standortübergreifend miteinander verzahnt werden. Die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Kollegen und Organisationseinheiten soll stärker verregelt und teilweise automatisiert werden. Neue Anforderungen an das Personal werden gestellt. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen geschult und mitunter neu eingestellt werden.

Digitalisierung als unvollendetes Projekt

Bevor eine Software wie SAP jedoch verwendet werden kann, muss sie gewissermaßen entstandardisiert werden, d.h., sie muss an die spezifischen Bedingungen einer konkreten Organisation angepaßt werden. Obgleich das Customizing seinem Anspruch nach als kundenorientierte Dienstleistung interpretiert wird, zeigt sich im Verlauf der Softwareimplementierung oftmals, daß vor allem Informationen mitgeteilt werden, die primär den formal-logischen Ansprüchen von Softwareexperten gerecht werden. Und dies aus gutem Grund: Berater haben es mit vagen und teilweise widersprüchlichen Anforderungen der Kundenorganisation zu tun. Sie arbeiten daher primär mit Unterstellungen und technikinduzierten Zuschreibungen und nicht mit konkreten Erwartungen und Beschreibungen der Arbeitsabläufe und des Informationsbedarfs auf der Seite der Organisationsmitglieder. Deshalb wird auch nach der Einführung integrierter Softwarepakete wie SAP oft weiterhin mit lokalen, spezialisierten, unvollständigen und anderweitig „defekten“ Datensammlungen gearbeitet.

Bei der Digitalisierung von Organisationen handelt es sich um ein lang andauerndes und vor allem unvollendetes Projekt. Es werden Verfahren auf eine idealisierte Wirklichkeit hin entworfen, auf eine Wirklichkeit, in der alle Zustände und Zustandsveränderungen in der Organisation nur genauso vorkommen, wie es das System der Software beschreibt bzw. vorschreibt. Dennoch funktionieren Organisationen besser als es die Diskrepanz der Organisationswirklichkeit und ihrer formalen Modelle und Digitalisierungsstrategien vermuten ließen.

Den wesentlichen Beitrag dazu leistet Informalität, die widersprüchliche Anforderungen in der Organisationswirklichkeit abfedert und Unvollkommenheiten informationstechnisch komplexer Regelwerke ausgleicht. Informalität betrifft nicht nur den Austausch zwischen Kollegen über einen Kunden oder ein Projekt in der Kaffeeküche. Sondern Daten im System der Software sind zu ergänzen, zu interpretieren und mitunter zu hinterfragen. Das System der Software erfordert nicht-formalisierbare Kompetenzen beim Umgang im turbulenten Organisationsalltag. Jede Organisation ist auf kompensatorische Leistungen ihrer Mitglieder angewiesen. Darin liegt kein Mangel an Perfektion der Organisation und ihrer Formalisierungswerkzeuge wie SAP. Eine vollständige Digitalisierung würde das Ende jeder funktionierenden Organisation bedeuten.

Dies deshalb, weil Veränderungen in der Organisationsumwelt (Kundenbedürfnisse, technischer Fortschritt, Wettbewerbssituation usw.) nicht erkannt und nicht mehr flexibel darauf reagiert werden könnte. Das wußte auch Herbert A. Simon, der sich früh für die Digitalisierung von Organisationen begeisterte, sich jedoch vor allem für das Urteilsvermögen, die Intuition und die Kreativität von Individuen interessierte.

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Dr. Hannah Mormann

Lehrt und forscht im Schwerpunkt Organisation & Management am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Im Frühjahr 2016 ist ihr Buch „Das Projekt SAP. Zur Organisationssoziologie betriebswirtschaftlicher Standardsoftware“ erschienen.