Verrat nach Treu und Glauben

Der Mann in der Klage fungiert als Whistleblower.

In den Augen der Überführten ist der Whistleblower ein Verräter und wird es immer bleiben. Und aus Sicht des Unternehmens? Wer Denunzianten erwartet, wird eher Denunzianten heranzüchten. Wer auf das Commitment zum Unternehmen setzt, wird Treu und Glauben stärken.

Es existieren zwei Modelle, die sich widersprechen:

  1. Das Standardmodell des Homo oeconomicus, das von den etablierten Managementkonzepten unterstützt wird. Gemäß diesem Modell geschieht Whistleblowing immer aus reinem Eigeninteresse. Der Whistleblower verrät andere, wenn es ihm nützt und er dadurch Schaden von sich abwenden kann. Die Meldung wird gemacht, um Handlungszwang gegenüber Konkurrenten auszulösen, nicht um Missstände zu beseitigen. Entweder um sich selbst reinzuwaschen oder nach dem Motto: „Nützt es mir nicht, schadet es wenigstens dem anderen!“

In diesem ökonomischen Verständnis des Whistleblowers wird das Wort „Denunziant“ verwendet. Ein Denunziant ist weder Held noch Verräter. Er ist kein Verräter, weil es für ihn keinen Glauben an gemeinsame Ziele gibt, den er verraten könnte. Gleichzeitig ist er kein Held. Der Denunziant ist ein Opportunist, wie es der Mensch nach dem Modell des Homo oeconomicus verkörpert.

Ist das ein realistisches Modell? Was ist mit Bürgerrechtlern, Partisanen und Deutschen, die im Dritten Reich Juden versteckten? Ähnelt der Whistleblower nicht eher solchen Menschen, die sich mit dem, was vor ihnen geschieht, nicht abfinden wollen? Solche Menschen handeln nicht aus Interesse, sondern aus Überzeugung.

  1. Das Gegenmodell zum Homo oeconomicus ist das Commitment-Modell, das dieser Überzeugungswirklichkeit entspricht. Es geht davon aus, dass Menschen nicht nur Opportunisten sind. Menschen können sich auf höhere Ziele als ihr eigenes Interesse verpflichten, sogar bis zur Selbstausbeutung und Aufopferung. Durch ihr Commitment zum Unternehmen sind sie in der Lage, ein Vergehen zu melden, nicht um ihrer selbst willen, sondern „in Treu und Glauben“. Sie entwickeln ein Gewissen, wenn sie Dinge sehen, die es nicht geben dürfte, und nehmen persönliche Risiken zur Verbesserung der Situation in Kauf.

Wie stehen die beiden Modelle zueinander? Das Commitment-Modell ist umfassender als der Homo oeconomicus. Der Denunziant ist zwar denkbar, aber er repräsentiert nicht den Normalfall. Im Commitment-Modell ist es der Normalfall, dass eine Meldung tatsächlich in gutem Glauben erfolgt.

Das Unternehmen muss entscheiden, welches Modell es dem Whistleblowingprozess zugrunde legen möchte. Wie der Whistleblower verstanden wird – als nützlicher Denunziant oder als Flaggen­träger der Unternehmenswerte – macht einen großen Unterschied: Wer Denunzianten erwartet, wird eher Denunzianten heranzüchten. Wer auf das Commitment zum Unternehmen setzt, wird Treu und Glauben stärken.

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