Integrität zu fordern und sie zugleich unerreichbar zu machen, ist eine problematische Systemneigung komplexer Organisationen. Der Entscheidungsträger als leibhaftige Person wird überfordert ??? nicht, weil er nichts taugt, sondern weil er stark ist und sich die ganze Last der Ansprüche aufbürdet. In der Tendenz sind diese paradox und deshalb untragbar ??? wie das gewichtslose Himmelsgewölbe, das allein ein Titan zu stemmen vermag.
Atlas ist der Titan, der das Himmelsgewölbe stützt, weil er zum gleichnamigen Gebirge versteinerte. Führungskräfte sind keine Titanen, und doch wird ihnen ein titanisches Ideal zugemutet. Es lässt sich auf eine prinzipielle Formel bringen: Den Erfolg bedingungslos zu suchen, aber nicht um jeden Preis. Unbedingter Erfolg nur unter bestimmten Bedingungen ist ein hölzernes Eisen, an dem, weil unaufbrechbar, auch der beste Mann zerbricht. Erst ein geduldiger Blick auf das schillernde Bild des integren Entscheidungsträgers bringt zutage, wie widersprüchlich der Integritätsimperativ konkret ausfällt.
Der Beispiele gibt es viele. Wer integer ist, fühlt anderen auf den Zahn, aber mit Rücksicht und Empathie. Wie indes soll das zugehen: als liebevolles Durchboxen? Wer integer ist, hat fünf gerade sein zu lassen und ein Auge zuzudrücken, darf aber nichts Inkorrektes durchgehen lassen. Wer integer ist, darf keine Gelegenheit verpassen, aber auch keiner Versuchung erliegen. Wer integer ist, hat den eigenen Erfolg darin zu suchen, anderen zum Erfolg zu verhelfen. Und alle diese gegensätzlichen Ansprüche gipfeln in der Maxime: Sei loyal, auch wenn Du in die Pfanne gehauen wirst!
Um solchen Ansprüchen zu genügen, reichen nicht einmal Titanenkräfte aus. Denn jeder der genannten Imperative führt jedesmal in einen double bind, in eine schizophrene Situation. Auch den stärksten Charakter spaltet sie. Nicht umsonst wird die Doppeldeutigkeit des Integritätsimperativs zur Machtsicherung eingesetzt. Es existieren Organisationen, in denen die Aufforderung: Sei integer! ausgegeben wird, ohne den double bind aufzulösen, ihn vielmehr mit der Erwartung des unbedingten Erfolgs immer wieder neu zu bestätigen. Wer sich in einer solchen Situation wiederfindet, kann gar nicht mehr entscheiden, ohne eine der beiden Botschaften des Integritätsimperativs zu missachten. Entweder er verweigert sich dem unbedingten Erfolg oder er verschreibt sich ihm. Das erste hiesse Illoyalität, das zweite Korruption in Kauf zu nehmen. Um integer zu bleiben, sieht er sich auferstanden zu entscheiden. Er muss die Macht anderer bestätigen und seine eigene abgeben.
Für jede Organisation gibt es nur zwei Lösungen: Entweder Zyniker züchten oder das System so umgestalten, dass Integrität eine widerspruchsfreie Option wird. Letzteres verlangt den Verzicht auf den unbedingten Erfolg.