Wer darf die Regel brechen?
Die Antwort „Niemand. Und wer es trotzdem tut, für den gibt es kein Erbarmen!“ auf die Frage, wer die Regel brechen darf, ist zynisch, lähmend und absurd.
Das Nulltoleranzprinzip besagt, dass niemand die Regel brechen darf und für denjenigen, der es dennoch tut, keine Gnade gibt. Es wird auf verschiedene Bereiche angewendet, von Spesenreglementen über Beschaffungsvorschriften bis hin zur Obergrenze von Risikopositionen.
Das Nulltoleranzprinzip klingt einfach und gut, da es unser Bedürfnis nach Autorität, Konsequenz und Eindeutigkeit befriedigt. Es erweckt den Eindruck, dass man auf der sicheren Seite ist und Integrität sowie Entschlossenheit zeigt. Toleranz hingegen wirkt verdächtig.
Aber wie sinnvoll ist das Nulltoleranzprinzip wirklich? Es scheitert an der Tatsache, dass es nur zwei Arten von Regeln gibt. Bereits 1978 stellten Starbuck, Greve und Hedberg fest:
a) Einfache Regeln beschreiben ein Verhaltensmuster, das leicht auf die konkrete Situation angewendet werden kann – unabhängig von den individuellen Umständen. Ein Beispiel dafür ist die Regel: „Aufträge dürfen nur bis maximal 75.000 Euro Honorarsumme akzeptiert werden.“ Diese Regel ist so einfach, dass sie alle anderen Aspekte ausblendet: Aufträge können aufgeteilt werden, der Kunde stellt eine einmalige Chance dar, der Kunde hat spezifische Anforderungen, es gibt hohen Konkurrenzdruck und so weiter. Solche Regeln vereinfachen die Realität, ignorieren Zusammenhänge und stehen für Halbwahrheiten.
b) Komplexe Regeln hingegen beschreiben ein Verhaltensmuster, das die Komplexität der Realität möglichst genau abbildet. Ein Beispiel dafür sind Corporate-Governance-Regeln, die in unzählige Unterregelungen aufgeteilt sind. Niemand weiß genau, ob diese Regeln befolgt werden oder nicht – daher gibt es eine Beratungsindustrie, die sich mit der Interpretation dieser Regeln befasst. Solche Regeln ähneln „Gedichten“, die nur eine vage Beziehung zur Realität haben.
Das Problem besteht darin, dass beide Arten von Regeln – sowohl die Halbwahrheiten als auch die „Gedichte“ – dazu führen, dass Menschen die Regeln falsch interpretieren. Aus diesem Grund sollten Unternehmen nicht blind allen Regeln folgen, einschließlich des Nulltoleranzprinzips. Im Gegenteil, es wird empfohlen, zu jeder Regel eine Gegenregel aufzustellen, um daran zu erinnern, dass weder Halbwahrheiten noch „Gedichte“ über erfolgskritische Situationen entscheiden sollen. Die Anwendung des Nulltoleranzprinzips wäre absurd.
Die Absurdität ergibt sich aus einem grundlegenden Denkfehler: Das Nulltoleranzprinzip ist eine gedankliche Totalisierung. Es unterstellt, ähnlich wie Just-in-time-Systeme oder Total Quality Management, dass es keine Zielkonflikte gibt und dass nur ein einziges „totales“ Ziel verfolgt werden sollte. Die Realität in Organisationen ist jedoch ganz anders. Es gibt viele Ziele, die Spannungsfelder erzeugen, und sie ist fragmentiert in Teilwahrheiten. Daher kann sie nicht allein durch regelgeleitetes Verhalten bewältigt werden.
Was bedeutet das für Einzelpersonen, die sich an Regeln halten müssen? Laut Harvard-Managementethiker Joseph Badaracco ist die Annahme, dass das Befolgen von Regeln der Normalfall in einer Organisation ist und das Brechen von Regeln unmoralisch, pathologisch oder rechtfertigungsbedürftig sei, widerlegt. Die hohe Komplexität organisationaler Situationen führt dazu, dass die Einhaltung von Regeln zu „schmerzhaften Widersprüchen“ und „grausamen Folgen“ führen kann. Ethik erfordert, die Regeln zu „beugen“. In dieser Perspektive wird das Nulltoleranzprinzip nicht nur absurd, sondern es wird sogar zu einem Gegenprinzip von Integrität und Entschlossenheit: Es einzufordern, wäre sowohl zynisch als auch lähmend, da es nicht umsetzbar ist.
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